StartJustiz & DemokratieDemokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte in der EU evaluieren – mit unterschiedlichen Fachleuten

Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte in der EU evaluieren – mit unterschiedlichen Fachleuten

– Artikel erstmals veröffentlicht in englischer Sprache im Magazin „Social Europe“ am 19.10.2020

Derzeit wird in Europa viel über Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte diskutiert. Kommission und Europäisches Parlament haben ihre Vorschläge unterbreitet, was in welchem Rahmen untersucht werden soll – und vom wem.

Doch um zu verstehen worum es geht, muss zunächst der Begriff „Rechtsstaatlichkeit“ näher betrachtet werden. Der englische Begriff „rule of law“ scheint deutlich zum Ausdruck zu bringen: Gesetze legen fest, was zulässig ist – und was nicht. Eine Definition, die vor allem von Orbán, Kaczyński und ihren Unterstützer*innen gerne verwendet wird. Denn die jeweils passenden ungarischen oder polnischen Gesetze gibt es ja für all das, was vom Europäischen Parlament und der Kommission, vom Europarat, aber auch von vielen Menschen, Richter*innen und Jurist*innen des eigenen Landes kritisiert wird.

Und tatsächlich greift eine solche Definition zu kurz; könnte sie doch im engeren Sinne auch zutreffen auf viele Autokratien und Diktaturen, die nicht selten Gesetze haben für Diskriminierung, Ausgrenzung, Verfolgung.

Doch die Europäische Union ist eine Vereinigung demokratischer Staaten. Natürlich legen Gesetze fest, was zulässig ist – und was nicht. Doch zugleich haben unsere Gesetze auch die Funktion, Demokratie und demokratische Spielregeln sowie die Grundrechte aller zu schützen.

Heute regieren in vielen europäischen Ländern Koalitionen aus zwei oder mehr Parteien. In Ungarn und Polen können sich Orbán und Kaczyński auf eine absolute Mehrheit im Parlament stützen. Doch hier wie dort sind demokratische Regierungen an Spielregeln gebunden. Etwa geordnete Verfahren, welche auch die Rechte der Opposition, der parlamentarischen Minderheit, achten, sowie Demokratie und damit auch Meinungsvielfalt erhalten.

Ähnliches gilt für die Verteilung von Fördermitteln. Es kommt einerseits darauf an, dass öffentliche Gelder nur für die jeweils vorgegebenen Zwecke verwendet werden. Daneben muss zudem sichergestellt sein, dass alle kommunale sowie gesellschaftliche Organisationen solche Mittel erhalten können – unabhängig davon, ob sie der Regierungspartei angehören, diese unterstützen oder eben der Opposition angehören, kritisch der Regierung gegenüberstehen.

In diesem Kontext kommt der Justiz eine besondere Rolle zu. Denn zum einen muss sie, unabhängig von Parteien und Regierungen, Gesetze im demokratischen Rechtsstaat anwenden und zum anderen mit Blick auf die Verfassung unabhängig prüfen können, ob neue Vorgaben die Prinzipien der Verfassung, der demokratischen Spielregeln eines Landes und die Rechte seiner Bürger*innen schützen.

Eine besondere Verantwortung haben bei all diesen Fragen auch die Medien. Sie sollen frei und kritisch berichten, Fragen stellen, wo nötig den Finger in die Wunde legen, Missstände aufzeigen. Das ist ein wichtiges Element demokratischer Kontrolle und ein wichtiger Beitrag für eine informierte Öffentlichkeit. Nur so können wir uns ein umfassendes Bild machen, unsere eigene Meinung und Erfahrung mit anderen abgleichen und so immer wieder unsere eigene Position hinterfragen, festigen oder verändern.

Rechtsstaatlichkeit ist also weit mehr als nur die Existenz von Gesetzen als Grundlage für das Handeln einer Regierung. In einem demokratischen Rechtsstaat geht es immer auch um den Schutz von Demokratie, um die Verteidigung von Grundrechten, es geht um Chancen und Bekämpfung von Diskriminierung und den Zusammenhalt einer Gesellschaft.

Auf europäischer Ebene gab es im Kontext der kritischen Auseinandersetzung mit den Entwicklungen insbesondere der ungarischen und polnischen Regierungen zunächst Versuche, durch Vertragsverletzungsverfahren Fehlentwicklungen zu korrigieren. Offensichtlich mit wenig Erfolg – angesichts des fortlaufenden Abbaus von Demokratie in diesen Mitgliedstaaten und der zunehmenden Beschneidung von Rechten.

Auch das im Vertrag von Amsterdam erstmals eingeführte und mit dem Lissabonner Vertrag vermeintlich verschärfte sogenannte Artikel 7-Verfahren hat sich als wenig wirkungsvoll gezeigt. Waren es zunächst Vertreter*innen der EVP im Parlament, die dieses Verfahren mit dem Vergleich einer politischen „Atombombe“ diskreditierten und sich so über Jahre einem klaren parlamentarischen Beschluss verweigerten (geändert hat sich das erst im Vorfeld der letzten Europawahl mit Manfred Weber als Spitzenkandidat), sah sich dann der Rat nicht in der Lage, mit vier Fünfteln der Mitgliedstaaten die Entwicklungen in Polen und Ungarn als problematisch anzuerkennen und Konsequenzen zu ziehen – obgleich dies im Vertrag ausdrücklich vorgesehen ist.

Die Kommission als Hüterin der Verträge ist zuständig für die Umsetzung und praktische Anwendung der gemeinsam verabschiedeten Gesetze, aber auch für den Schutz von Demokratie und Grundrechten, wie sie etwa in Artikel 2 des Vertrages der Europäischen Union festgeschrieben sind. Doch echte Konsequenzen kann nur der Rat beschließen – was er bisher nicht tut.

Bei der Debatte um Rechtsstaatlichkeit muss es daher nach Überzeugung des Europäischen Parlaments immer um den Dreiklang von Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Grundrechten (DRG) gehen. Den von der Kommission in diesem Jahr erstmals vorgelegten jährlichen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit begrüßen wir zwar, er greift aus unserer Sicht jedoch zu kurz, da die Bereiche Demokratie und Grundrechte nicht abgedeckt sind.

Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen zudem, dass es nicht ausreicht, die Entwicklungen nur in einzelnen Staaten zu betrachten. Denn die derzeitige Situation mit Vertragsverletzungsverfahren und Artikel 7-Verfahren gegen Polen und Ungarn macht es Kaczynski und Orbán nur allzu leicht, zu behaupten, Kritik an ihren Regierungen sei unfair bzw. pures politisches Kalkül.

Daher fordert das Europäische Parlament schon seit Langem einen umfassenderen Mechanismus zur Evaluierung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten in allen EU-Mitgliedstaaten , der auf dem Vorschlag des Parlaments aus dem Jahr 2016 und dem jährlichen Bericht der Kommission über die Rechtsstaatlichkeit aufbaut, durch eine interinstitutionelle Vereinbarung zwischen den drei Organen geregelt wird und in einen jährlichen Überwachungszyklus aller Mitgliedstaaten für alle Aspekte von Artikel 2 EUV mündet, inklusive Empfehlungen mit eindeutigen Zeit- und Zielvorgaben für die Umsetzung. Ein Versäumnis der Umsetzung der Empfehlungen muss zu konkreten Maßnahmen führen, einschließlich Verfahren nach Artikel 7 EUV, Vertragsverletzungsverfahren, aber eben auch der Konditionalität des Haushalts, für die sich das Europäische Parlament auch in den Verhandlungen zum MFF 2021-2027 einsetzt.

Damit soll eine breit angelegte, objektive und gerechte Betrachtung und Bewertung nationaler Regeln und Entwicklungen gesichert werden. Ein Schritt, um dann endlich auch die Blockade im Rat aufzubrechen.

Dabei geht es eben nicht allein um die isolierte Betrachtung einzelner Beschlüsse oder Gesetze, sondern stets um ein Gesamtbild. So spielt beispielsweise bei der Ernennung von Richter*innen oder Spitzenbeamt*innen nicht nur die Frage eine Rolle, wer ihre Ernennungsurkunde unterschreibt. Wichtig ist auch, von wem vorab die Ernennungsvorschläge gemacht werden können und ob und in welchem Umfang Richter*innen oder Spitzenbeamt*innen in ihrer Arbeit kontrolliert oder gar eingeschränkt werden können. Unabhängigkeit, Qualität und Effizienz der nationalen Justizsysteme – all diese Aspekte zusammengenommen entscheiden darüber, ob effektive Rechtsprechung gesichert ist, in die die Bürger*innen vertrauen können.

In seiner Forderung nach einem Mechanismus für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten in allen Mitgliedstaaten setzt sich das Europäische Parlament daher auch nicht ohne Grund für die Hinzuziehung von externen Fachleuten ein. Dabei können wir auf ein breites Netz unterschiedlicher Fachleute in Menschenrechtsinstitutionen, Gleichstellungsstellen und anderen Institutionen und Verbänden zurückgreifen: Neben der Venedig-Kommission des Europarates oder dem UNHCR sind das etwa Vereinigungen von Richter*innen und Anwälten, Verbände von Journalist*innen wie etwa Reporter ohne Grenzen, die europäische Grundrechteagentur, der europäische Datenschutz-Ausschuss, europäische Wohlfahrtsverbände, EUROJUST, Netzwerke gegen Radikalisierung. Alles Organisationen, in denen sich Menschen aus verschiedenen Ländern und mit unterschiedlichen Erfahrungen und Kompetenzen finden.

All diese Kompetenzen und Erfahrungen müssen in einem Panel zusammengeführt werden. Ihnen muss in allen Phasen des jährlichen Überwachungszyklus eine entscheidende Rolle zukommen – von der Bereitstellung von Beiträgen, die in den Zyklus mit einfließen, bis zur Unterstützung bei der Anwendung und der Überwachung der länderspezifischen Empfehlungen.  Natürlich sollte ein solches Panel keine Konkurrenz etwa zur Kommission als Hüterin der Verträge sein. Doch die Kommission beteiligt ja selbst auch häufig externe Fachleute, so dass eine gute Koordination und Zusammenarbeit gewährleistet ist.

Die dadurch ermöglichte Debatte könnte weit über die Betrachtung von Regierungen und staatlichem Handeln hinausgehen. In einem kontinuierlichen Prozess könnten am Ende größeres wechselseitiges Wissen und gemeinsame Erkenntnisse entstehen, wie wir – in Vielfalt vereint – unsere Demokratien stärken. Eine breite öffentliche Debatte ist auch eine Chance, die Bedeutung von DRG wieder deutlicher ins öffentliche Bewusstsein zu rufen. Denn unsere Demokratie braucht mehr aktive Demokrat*innen. Häufig halten wir unsere Demokratie für allzu selbstverständlich, sind womöglich allzu unkritisch gegenüber einzelnen Erscheinungen im eigenen Land – weil es ja im Vergleich zu anderen bei uns doch „noch sehr gut“ läuft.

Die Debatte über DRG sollte daher nicht allein als Austausch von Institutionen und Expert*innen erfolgen, sondern muss möglichst viele Menschen erreichen und aufzeigen, was Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte oder eben deren Einschränkung für Menschen und gesellschaftlichen Zusammenhalt bedeuten. Die geplante „Konferenz zur Zukunft Europas“ könnte dabei EIN Element sein. Denn Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte sind unverzichtbare Grundlage –auch für andere drängende Zukunftsfragen.

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