StartAktuelles„EU schafft sozialpolitische Kehrtwende“

„EU schafft sozialpolitische Kehrtwende“

Einigung auf Richtlinie zu fairen Mindestlöhnen

Vertreterinnen und Vertreter von Europäischem Parlament und französischer EU-Ratspräsidentschaft haben sich in der Nacht zum heutigen Dienstag auf die Richtlinie zu fairen Mindestlöhnen geeinigt. Neben Standards für nationale Mindestlöhne geht es darin darum, dass mehr Beschäftigte in der EU durch Tarifverträge geschützt werden.

Dazu meine Kollegin Gaby Bischoff, S&D-Vizepräsidentin sowie sozial- und beschäftigungspolitische Sprecherin der SPD-Europaabgeordneten: „Armut trotz Arbeit soll es in Europa nicht mehr geben. Künftig werden endlich angemessene Mindestlöhne für Millionen von Europäerinnen und Europäer greifen. Diese Einigung ist ein Erfolg für die europäischen Beschäftigten und Europas Sozialdemokratie. Wir haben uns jahrzehntelang für diese klare, europaweite Messlatte für angemessene Mindestlöhne eingesetzt und hatten diesen Vorschlag zur Bedingung gemacht, um das Arbeitsprogramm dieser EU-Kommission zu unterstützen.

Heute kämpfen laut Eurostat mehr als zwei Drittel der Mindestlohn-Empfänger*innen darum, über die Runden zu kommen. Verkäufer*innen, Paketzusteller*innen oder Beschäftigte in der Pflege halten unsere Gesellschaft am Laufen, sind aber drastisch unterbezahlt. Viele arbeiten eine harte 40-Stunden-Woche, sind aber derzeit nicht in der Lage, die explodierenden Lebensmittel- und Energiepreise zu bezahlen. Es ist höchste Zeit, diesen Abwärtstrend umzukehren und Umverteilung von unten nach oben mit Vereinbarungen wie dieser Richtlinie zu bekämpfen.

Der Lohn der europäischen Beschäftigten muss die Kosten für Essen, Miete und Heizung decken, aber auch ermöglichen, sich neue Kleidung zu leisten oder ab und zu Urlaub zu machen. Derzeit erfüllen 18 EU-Länder die Kriterien des EU-Parlaments dafür nicht. Die EU-Länder sollen ihre Mindestlöhne künftig an internationalen Maßstäben messen; mindestens die Hälfte des jeweiligen durchschnittlichen Bruttolohns und 60 Prozent des Medianbruttolohns.

Die Richtlinie kann zudem mittelfristig dazu beitragen, die Tarifbindung zu stärken und so für bessere Einkommen sorgen. Sollten in einem Mitgliedstaat weniger als 80 Prozent der Arbeitsverhältnisse unter den Geltungsbereich von Tarifverträgen fallen, sollen die Mitgliedstaaten künftig Aktionspläne entwerfen und umsetzen, um Tarifverhandlungen zu fördern.

Die EU-Regierungen sollten dieser Einigung zustimmen. Die EU hatte sich mit der Erklärung von Göteborg bereits zum Recht auf angemessene Mindestlöhne bekannt. Arbeit muss sich lohnen.“
Die EU-Regierungen werden voraussichtlich am Donnerstag, 16. Juni 2022 mit qualitativer Mehrheit über die politische Einigung entscheiden. Der Beschäftigungsausschuss des Europäischen Parlaments soll im Juni über die Richtlinie abstimmen, im September könnte das Plenum votieren. Nach der Verabschiedung hätten die EU-Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, die EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in nationales Recht umzusetzen.

Laut Eurostat ist jeder zehnte europäische Beschäftigte von Armut bedroht, wobei diese Zahl bei Arbeitnehmer*innen mit Zeit- oder Teilzeitbeschäftigung auf jeden sechsten ansteigt. Laut Hans-Böckler-Stiftung sind 60 Prozent der Mindestlohnempfänger*innen Frauen.
Die europäische Richtlinie sieht weder einen einheitlichen Mindestlohn für alle EU-Länder noch verbindliche gesetzliche Mindestlöhne vor, noch wird der nationale Mindestlohn von Brüssel festgelegt. Das Recht der Sozialpartner, Löhne auszuhandeln, zu überwachen und festzulegen, bleibt unangetastet. Kollektivverhandlungen sind Vorrecht der Gewerkschaften.  Die Richtlinie legt einen angemessenen Lebensstandard als Maßstab für die nationalen Mindestlöhne fest, wodurch die Mindestlöhne für Millionen Europäer*innen nach oben korrigiert werden.

Den EU-Finanzminister*innen ist es auf ihrer letzten Tagung am 5. April 2022 nicht gelungen, sich auf die Richtlinie einigen. Polen ist derzeit der einzige Mitgliedstaat, der sich verweigert. Steuerfragen erfordern in der aus 27 Ländern bestehenden Europäischen Union stets Einstimmigkeit. Das Europäische Parlament stimmt eine Woche vor dem nächsten Treffen der EU-Finanzminister*innen am 24. Mai 2022 ab und soll zusätzlichen Druck auf Polen ausüben, die Richtlinie über die effektive Mindestbesteuerung anzunehmen.
Bereits seit einem Jahrzehnt arbeiten Vertreter*innen der OECD-Staaten an einer überfälligen Reform des internationalen Steuersystems. Im Oktober 2021 hatten sich nun 137 von 140 Länder des OECD inklusive Framework, einschließlich aller EU-Mitgliedstaaten, auf die übergreifenden Grundsätze einer Zwei-Säulen-Reform.
Säule I befasst sich mit der Neuzuweisung von Besteuerungsrechten. Zukünftig sollen Besteuerungsrechte vom Ansässigkeitsstaat in sogenannte Marktstaaten umverteilt werden, wo Unternehmen Gewinne erwirtschaften, ohne physisch präsent zu sein. Durch einen gemeinsamen Ansatz sollen außerdem nationale Maßnahmen – insbesondere nationale Digitalsteuern – überflüssig werden.

Säule II dieser Reform zielt darauf ab, durch eine globale Steuer gegen die Aushöhlung der Bemessungsgrundlage einen effektiven Mindeststeuersatz von 15 Prozent festzulegen.

Bereits zwei Monate nach der Einigung auf OECD-Ebene hat die EU-Kommission im Dezember Vorschläge vorgelegt, mit der die Säule II, die effektive Mindestbesteuerung der weltweiten Tätigkeiten multinationaler Konzerne, umgesetzt werden soll. Diese führen für alle Konzerne mit einem Jahresumsatz von über 750 Millionen Euro und einer Mutter- oder Tochtergesellschaft in der EU einen effektiven Mindeststeuersatz von 15 Prozent ein. Der Vorschlag der EU-Kommission ist eng an die internationale Vereinbarung angelehnt.

Noch in diesem Sommer will die EU-Kommission nach eigenen Aussagen einen Vorschlag zur geplanten Neuzuweisung von Besteuerungsrechten, Säule I, vorlegen.



Meist gelesen

Beliebte Stichwörter

ARCHIV